Jutta Voigt:

Der Mann, der auf den Bus wartet

Auf einem Photo von Arno Fischer erkannte ich zum erstenmal mein Gesicht. Streng, androgyn, kindhaft. Ich war zwanzig, hatte Godards Außer Atem im Kopf und studierte Philosophie. Gelegentlich hatte ich als Photomodell für die SIBYLLE gearbeitet, die Modephotos dieser Zeit kopierten die süßen Posen der Pin ups der Fünfziger, darauf war ich ein adrettes Püppchen, das lächelte und die Hände zur Seite spreizte. Eine Modestudentin fragte, ob ich ihre Diplommodelle an der Kunsthochschule Weißensee vorführen wolle. So kam es, daß ich Arno Fischer traf, der dort Photographie unterrichtete und den Mädels der Modeklasse half, ihre Arbeiten zu präsentieren. Es entstand das Bild im schwarzen Mantel neben schwarzen Bäumen. Ein sehr anderes Photo, ein sehr anderer Photograph.

Ich erinnere mich, daß auch der Vorgang des Photographierens ein anderer als der damals übliche gewesen ist. Arno Fischer, ein kleiner Mann mit kräftigen Unterarmen und einem schmalen sensiblen Mund, inszenierte nicht, er ermutigte mich, der Kamera zu vertrauen, mich ihr auszusetzen, direkt, ohne Pose. Nur das Bekenntnis zu mir selbst zählte. Fischer war nicht der flotte Photograph, der rasante Knipser, der Aus-dir-mache-ich-was-ganz-Großes-Angeber; es herrschte die Atmosphäre eines gemeinsamen Versuchs, von dem nicht sicher war, ob er gelingen würde. Scheu auf beiden Seiten, ich guckte auf ihn, er auf mich. Er bemühte sich nicht, die gegenseitige Angst vor der Fremdheit zu überspielen. Die Verführung zum Bekenntnis kam beiläufig zustande, mit der Kraft der Normalität. Fischers unprätentiöses Berliner Idiom trug eine Menge dazu bei. Ja, dit is jut, jenau, kucken Se ruhig in die Kamera, wir machen dit jetzt mal so. Das Wort kucken sprach er damals wie heute mit einer auffälligen Deutlichkeit und der Betonung auf beiden Silben. Ich weiß noch, daß ein Tonband mit Blues lief, während er im Atelier photographierte, Portraits vor einer weißen Wand, später gingen wir nach draußen, und er machte das Photo im Mantel. Das war Anfang der sechziger Jahre. [...]

Er gebrauchte oft das Wort streng, es bezeichnete einen Anspruch, der mit der schnellen, effektvollen Knipserei kollidierte und die Geschichte der Photographie in die Gegenwart holte. Wenn ich ihn anrief und fragte, ob er ein Photo zu einem bestimmten Thema hätte, überlegte er erst mal, ob einer seiner Kollegen oder Schüler das passende Photo vielleicht schon gemacht hat, wer von allen am besten in der Lage war, das gewünschte Photo zu liefern: Ick gloobe der Heyden hat da wat. Er telefonierte rum oder fuhr in seinem dreckigen alten Wartburg gleich selber hin und sah die Kontaktbögen durch. Es ging ihm völlig selbstverständlich weder um die eigene Karriere, noch um das Honorar, es ging ihm tatsächlich um die Dritte Sache: die Photographie. Um deren Rettung vor der Agitation, der Spekulation, der Verflachung, dem Kunstgewerbe. Es ging ihm um die Rettung der Photographie vor der Knipserei, um die Rettung des Engagements vor dem Geschäft, die Rettung der Wahrheit vor der Schönfärberei. Ich hatte viel von ihm zu lernen, über die Ästhetik hinaus.

Die Eineinhalbzimmer-Altbau-Wohnung in der Hannoverschen Straße, wo Fischer mit Sibylle Bergemann, seiner späteren Frau und berühmtesten Schülerin, bis Ende der sechziger Jahre lebte, wurde zum Treffpunkt einer Bande von Photographiebesessenen. »Es gab immer was zu saufen, zu essen und zu sprechen.« Brigitte Voigt, Roger Melis, Thomas Höpcker, Bernd Heyden, Michael Ruetz brachten ihre Photos mit, verteilten sie über Tisch und Dielen, und es begann ein Diskurs jenseits von Konkurrenz und Geschäft, beides spielte in der Hannoverschen Straße keine Rolle. Fischer, der »Lichtenberger Doppelkorn« mit Brause trank und immer dieselbe Jacke anhatte, wurde nicht müde, seine Überzeugungen und Obsessionen auf andere zu übertragen und seine Abneigung gegen alles Modische, Laute, Hochgetiffte mimisch und gestisch deutlich zu machen. Entschiedene Verteidigung der Stille. [...]

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Aus: Arno Fischer: Photographien. Herausgegeben von T.O. Immisch und Klaus E. Göltz. Mit Texten von Jutta Voigt und Andreas Krase.
160 Seiten, zahlreiche Duoton-Abbildungen, schön gebunden, Leinen Schutzumschlag, 68,– DM
ISBN 3-928833-93-6